
Eine verlorene Liebe
Gleichmäßig und monoton ratterte der Zug am Meer entlang. Irene
Maler, eine elegante, selbstbewusste Frau um die Fünfzig, beschäftigte
sich in Gedanken mit der Überraschung, die sie mit diesem Besuch ihrem
Mann wohl bereiten würde. Sie hatte sich extra ein paar Tage freigenommen.
Siegfried würde sich freuen, wenn sie so plötzlich vor ihm stand.
War er doch nur sehr ungern der Bitte seines Chefs gefolgt, für einige
Wochen in Alassio zu arbeiten.
Immer wieder sah sie in die reizvolle Landschaft hinaus, die an ihrem Zugfenster
vorüberglitt. Aus einer Laune heraus hatte sie gerade diese Strecke gewählt.
War sie doch seit damals nicht mehr hier gewesen. Wie sehr sie die Riviera
liebte! Wie hatte sie das nur vergessen können. Und dabei wäre sie
vor einem Vierteljahrhundert fast ihre Heimat geworden. Genua, Savona, Noli.
Ihre Hand tastete nach dem Anhänger an ihrer Halskette. Nur ein kleiner
goldener Schlüssel. Finale Ligure, Pietra Ligure. Hier hatte der Zug
zehn Minuten Aufenthalt! Wie sie dieses Städtchen früher geliebt
hatte. Wie oft hatte sie hier Urlaub gemacht. Und wenn sie hier die Zugfahrt
einfach unterbrechen und ein wenig durch den Ort bummeln würde? Es war
ja erst Mittagszeit, und ihr Mann würde sicher noch arbeiten, wenn sie
so früh in Alassio ankäme. Sie würde einfach den nächsten
Zug in diese Richtung nehmen. Und schon hatte sie ihr Gepäck ergriffen
und stand wenig später auf dem Bahnsteig von Pietra.
Italienische Wortfetzen drangen an ihr Ohr...Attenzione... Treno parte...
War der Bahnhof früher auch schon so groß gewesen? Zögernd
bewegte sie sich zum Ausgang. Uscita... Einige Sprachrelikte kehrten in ihr
Bewusstsein zurück. Schon ging sie zielstrebig über den Bahnhofsvorplatz
zur Palmenpromenade und dort am Strand entlang.
Tief atmete sie die würzige Meeresluft ein. Noch war keine Saison und
die wenigen Touristen verliefen sich zwischen den Einheimischen. Einige genossen
die wärmenden Sonnenstrahlen auf den Bänken zwischen den herrlichen
Blumenrabatten. Wie hatte sie nur die Schönheit der Riviera im Frühling
je vergessen können. Damals war auch Frühling gewesen. Hier musste
doch irgendwo in der Nähe das kleine Fischrestaurant gewesen sein, in
dem sie so gern Calamari gegessen hatten! Ob es noch da war? Ihr Herz machte
einen Satz, als sie das Häuschen erblickte, genauso, wie sie es in Erinnerung
hatte. Zielstrebig ging sie auf den Eingang zu und betrat das Lokal. Es kam
ihr jetzt viel kleiner vor. Doch da, da war ihr ehemaliger Lieblingsplatz.
Ohne zu überlegen steuerte sie darauf zu und setzte sich. Die hübsche
junge Kellnerin fragte sie gleich nach ihren Wünschen, und sie gab, etwas
holperig zwar, ihre Bestellung in italienischer Sprache auf.
War es nicht erst gestern gewesen, dass sie mit Gianni, ihrer großen
Liebe, hier gesessen hatte? Gianni.
Plötzlich ging die Tür auf, und ein großer, athletisch gebauter
Mann trat herein. Braun gebrannt war er und seine Gesichtszüge glichen
denen einer römischen Statue. Es war... Gianni? Aber er war überhaupt
nicht gealtert! Die Jahre schienen spurlos an ihm vorübergegangen zu
sein. Voller Elan kam er direkt auf sie zu. Sie wollte schon aufspringen,
doch er, er schien sie nicht zu erkennen! Er sah sie zwar neugierig an, aber
schien doch unbeeindruckt von der Gefühlsvielfalt, die sich auf ihrem
Gesicht widerspiegeln musste. Sie schaute etwas irritiert zu ihm hin und entdeckte
dann aber kleine Unterschiede zu ihrem Gianni. Die Züge waren weicher,
seine Haare lockiger, und auch die Augen zeigten einen anderen Ausdruck. Ob
er wohl Giannis Sohn war?
In seiner Begleitung war eine hübsche junge Frau, mit der er am Nebentisch
Platz nahm. Die beiden unterhielten sich. Er sprach, und sie stimmte zu, er
bestimmte, und sie nickte. Er gestikulierte raumgreifend, und sie hing an
seinen Lippen. Er schien seinen Platz vollständig auszufüllen, sie
dagegen wirkte unscheinbar.
Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr:
"Mama hat Recht..." Ja, das kannte sie noch von früher. "Auf
keinen Fall wirst du das tun, wer versorgt denn dann die Kinder? Ich möchte
ja schließlich mehrere ... Mama hat auch gesagt, Frauen gehören
ins Haus, und nicht in ein Büro oder Geschäft.... Ich möchte,
dass meine Familie im Haus ist, wenn ich von der Arbeit komme...."
Ich, immer ich!
Irene kam die Situation seltsam bekannt vor. Immer wieder schaute sie fasziniert
zu den beiden hinüber. Er benahm sich ganz so wie damals ihr Gianni!
So war er in ihrer Erinnerung lebendig. So schön, so strahlend und doch
auch so ein Macho...! Ob die beiden wohl schon miteinander verheiratet waren?
In diesem Moment stand der Mann auf, ohne sich um seine Begleiterin zu kümmern
und strebte zum Ausgang. Hier drehte er sich kurz zur Kellnerin um, warf ihr
ein Scherzwort zu und bedachte sie mit einem langen verheißungsvollen
Blick. Die junge Frau folgte ihm, und gemeinsam verließen sie das Lokal.
Irene schluckte. Das Mädchen tat ihr Leid. Doch durchströmte sie
plötzlich ein Glücksgefühl. Dieses Leben war ihr erspart geblieben!
Entschlossen und voller Tatendrang, im Bewusstsein ihrer eigenen Freiheit,
bezahlte sie ihre Rechnung, gab ein viel zu hohes Trinkgeld und machte sich
auf den Weg zum Bahnhof. Sie freute sich auf ihren Mann.